Komm Ins Offene

VIVACE – Neue Töne im Theater

VIVACE heißt das neue elektronische Raumakustiksystem, das im Stadttheater nun für ein absolut lebendiges Hörerlebnis bei allen Veranstaltungen sorgt. Es wurde Ende März mit 20 Musiker*innen des Orchestervereins Kempten getestet. Foto: Ulrike Rottenburger

Von Ulrike Rottenburger

Auch wenn in dieser kulturarmen Zeit die Theatertüren geschlossen bleiben müssen, tut sich dahinter sehr viel. Die „Nach-Corona-Zeit“ wird organisiert, das immer weiter wachsende Schauspielensemble probt Stücke für die Wiedereröffnung des Theater in Kempten und nicht zuletzt wird das Stadttheater auf einen technisch perfekten Stand gebracht. 

Es ist der 23. März 2021. Ein Orchester hält Einzug auf der Bühne. Ein geradezu unwirklich, verboten anmutender Anblick in Corona-Zeiten! Was ist da los?

Nach und nach betreten 20 Musiker*innen des Orchestervereins Kempten die große Bühne des Stadttheaters – mit Maske, Stühle in gebührendem Abstand, alles wirkt ungewohnt und doch knistert der Raum vor freudiger Erwartung: Heute erklingt Musik im Haus!

Die Sondergenehmigung für diesen Abend im Stadttheater mit dem Orchesterverein Kempten ohne Publikum bildet den vorläufigen Höhepunkt eines seit mehreren Jahren währenden Prozesses: VIVACE wird eingerichtet und erhält den letzten Feinschliff!

Vivace? Ist das nicht eine musikalische Tempobezeichnung?

Ja und noch viel mehr – Vivace, in der Musik der Ausdruck dafür, dass entsprechend gekennzeichnete Stellen besonders lebendig gespielt werden sollen, steht nun im Theater auch für besonders lebendigen Raumklang. Denn so heißt das neue elektronische Raumakustiksystem, das im Stadttheater nun für ein absolut lebendiges Hörerlebnis bei allen Veranstaltungen sorgt. 

Viele Konzertbesucher erinnern sich noch an das große blaue Konzertzimmer, die eigens für die Meisterkonzerte auf der Bühne aufgebaut werden musste. 2015 wurde dieser mehrere Tonnen schwere Koloss ausgemustert – zu schwer, zu sperrig und aufwändig im Aufbau waren die massiven Wände, die als eine Art Konzertmuschel besseren Klang herstellen sollten – und schließlich mit zwei Sattelschleppern zur Einlagerung in die Lager des Theaters in der ehemaligen Kaserne gefahren werden mussten. 

Seit 2019 reift die Idee, das Konzertzimmer durch ein elektronisches Raumakustiksystem zu ersetzen. Nun wird dieses System im Stadttheater final eingerichtet. Was kennzeichnet dieses neue System? Ein spannendes Thema, das wir im Gespräch mit Ulf Klüpfel (Technischer Leiter Kempten Messe- und Veranstaltungs-Betrieb) und Erasmus Gerlach (Diplom-Audio-Engineer im T:K) ganz genau betrachten: 

Ende März wurde das System VIVACE nun live im Theater eingemessen. Was für einen Unterschied macht das für die Musiker?
Ulf Klüpfel: Vor allem verbessert sich die Kommunikation der Musiker untereinander. Das ist das, was wir bei der Einmessung auch herausfinden wollten: Idealerweise kann sich das Orchester untereinander besser hören und verständigen. Die Geigen hören nun auch die Celli auf der anderen Seite. Die Bläser, die dann einmal ganz hinten sitzen werden, hören auch die Instrumente, die weiter vorne auf der Bühne platziert sind. 
Erasmus: Die räumliche Trennung der Musiker wird durch das System quasi überbrückt. Sie sitzen nun nicht mehr wie in einem separaten Raum, der die Bühne ja in Wirklichkeit ist. Es wird ein einheitlicher Klangraum hergestellt. 

Und für das Publikum?
Klüpfel: Das Publikum wird einen schönen, einheitlichen, satten Klang erleben. Auch das leichte Rauschen an den Randplätzen konnten wir abstellen. Außerdem gibt es definitiv einen besseren Klang für die Hörhilfen, die man an der Garderobe ausleihen kann. So ein System haben eigentlich nur große Häuser, da sind wir schon ein wenig stolz, dass wir das anbieten können. Zudem ist die Position der einzelnen Instrumente auf ihrer Originalposition besser zu orten, gleichzeitig wird das Orchester mehr als Ensemble wahrgenommen und so ergibt sich ein sehr natürliches Klangbild.

Erasmus Gerlach: Klassische Musik wurde eigentlich für Kirchenräume, für Verschmelzung komponiert. Wenn wir jetzt im Theater Musik hören, wird die trockene Akustik dort verändert, damit ein optimales akustisches Erlebnis für diese Musik möglich wird.

Klüpfel: Genau. So kann sich das Theater an die eigentlich übliche Akustik eines Konzertsaals annähern. 

Hatte das Theater nicht schon bei seiner Neueröffnung 2007/08 die modernste Nachhallanlage Deuschlands?
Klüpfel: Ja richtig. Das System VRAS gab es aber nur als System für den Saal. Darauf baut VIVACE jetzt auf- Das „alte“ System wurde mit einem Update versehen und verbessert, das Gesamtkonzept auf die Bühne ausgedehnt. Die Mikrofone und Lautsprecher aus der ursprünglichen Anlage werden weiter genutzt, das System wurde erweitert. Wir arbeiten jetzt mit insgesamt 94 Lautsprechern (25 neu) und 32 Mikros (12 neu).
Gerlach: Das Herzstück, der Controller/Rechner wurde erneuert, die Leistung ist jetzt sehr viel höher und wir können viel mehr Räume erzeugen.

Es heißt sogar, Kempten ist in Deutschland das einzige Theater mit diesem audioakustischen System?!
Klüpfel: Tatsächlich ist Kempten das einzige Stadttheater in Deutschland mit diesem System, bei dem Bühne und Zuschauerraum getrennt sind. Da sind wir die einzigen, die mit VIVACE diese Trennung überwinden. Viele große Städte haben ja ein eigenes Konzerthaus. Wir in Kempten haben Schauspiel und Konzerte unter einem Dach. Durch das Bühnenportal werden Bühne und Zuschauerraum getrennt – auch akustisch. Diese Trennung hebt VIVACE akustisch auf und erzeugt so ein tolles Hörerlebnis, egal ob für Musik oder Sprechtheater. 

Das kann also künftig auch fürs Sprechtheater genutzt werden?
Gerlach: Ja klar, wir haben das schon im September 2020 bei „No Planet B“ ausprobiert. Man kann auch das Sprechtheater ganz ohne Microports verstärken, man kann die Lautsprecher auf der Bühne auch als Monitor fürs Tanztheater verwenden oder stärker akustische Effekte einsetzen. Da gibt es viele tolle Ideen, wie wir das einsetzen können. Unsere Chefin hat jetzt schon einige Pläne. 😉 

Klüpfel: Der Saal wäre damit theoretisch sogar „kinofähig“.

Hat die Schließung in der Corona-Zeit dem Prozess genutzt?
Klüpfel: Durch die Schließung hatten wir viel mehr Luft, das System einzurichten. Außerdem konnten wir den mechanischen Einbau in Eigenleistung machen, das hat natürlich Geld gespart. Jetzt würden wir es aber echt gerne dem Publikum und weiteren Künstler*innen vorführen. Die endgültigen Einstellungen einzurichten ist jetzt allerdings schwierig, weil wir nicht mit einem großen Orchester final einmessen können. 

Gerlach: Wir haben für diese vorläufige Einmessung jetzt zwar eine Sondergenehmigung bekommen. Aber der Test war auf 20 Musiker*innen beschränkt – und nur auf Streicher*innen. Manche Anforderungen konnten jetzt also gar nicht eingemessen werden. Damit müssen wir nun warten, bis wieder „richtige“ Konzerte erlaubt sind. 

Was sagt der Orchesterverein? Statements nach dem Test aus dem Ensemble: 

Mary Ellen Kitchens/Dirigentin Orchesterverein: Ich habe mir heute den Klang von den verschiedensten Orten im Theater angehört: hinten, vorne und seitlich auf der Bühne, vom Rang und von der letzten Reihe im Parkett – und bin begeistert! Der Klang ist sehr präsent und differenziert, man hört alle Register!

Sibylle Knott (Violine): Es war früher immer ein Problem, vom Probensaal ins Theater zu wechseln. Bei der Generalprobe hat man erstmal nur sich selbst gehört. Ein Laienorchester kann das schon verunsichern. Bei dem Test heute habe ich auf einmal die Celli, die 2. Geigen, die Bratschen gehört – es war beeindruckend! Es ergibt ein ganz neues Gefühl des gemeinsamen Musizierens – und verbessert nun sicher auch das Spiel des Orchesters. Einen Konzertsaal haben wir in Kempten immer vermisst. Jetzt haben wir einen! Das wird für alle Ensembles toll sein!

Andreas Weber (Violoncello): Das ist ein massiver musikalischer Mehrwert. Klassikfreunde werden sich freuen!