Interview mit Prof. Dr. Ricardo Felberbaum, dem Gründer der Sebald-Literaturgesellschaft

Repro: Jan Peter Tripp
Von Hans Piesbergen
W. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach im Allgäu, gestorben 2001 in Norfolk (England) bei einem Verkehrsunfall, möglicherweise in Folge eines Herzinfarktes, ist ein im angelsächsischen Sprachraum weithin bekannter Schriftsteller, dessen Werke in Deutschland außerhalb der Literaturwissenschaft nur wenige Menschen kennen. Nichtsdestotrotz wurde Sebald zu Lebzeiten immer wieder als Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis genannt. Sein 2001 erschienener Roman AUSTERLITZ zählt zu den bedeutendsten Romanen unseres Jahrhunderts.
Am 13. März 2020 kommt die Bühnenfassung seiner Erzählungen DIE AUSGEWANDERTEN im T:K-Theater in Kempten in der Inszenierung von Silvia Armbruster zur Uraufführung.
Sebald-Literaturwettbeweb ausgeschrieben
Die neu gegründete Deutsche Sebald Gesellschaft e.V. wird im November 2020 in Sonthofen zum ersten Mal den mit 10.000 Euro dotierten Literaturpreis an eine*n Autor*in verleihen. Schriftsteller*innen, die an diesem Wettbewerb teilnehmen wollen, sollen ihren literarischen Beitrag zum Thema „Erinnerung und Gedächtnis“ bis 30. April 2020 mit einer Biografie beim Rathaus in Sonthofen einreichen (hier geht’s zur Teilnahme).
Im Folgenden lesen Sie den Versuch, ein Gespräch zusammenzufassen, das Hans Piesbergen im Dezember 2019 mit dem Gründer der Deutschen Sebald Gesellschaft, Prof. Dr. med. Ricardo Felberbaum, führte.

Professor Felberbaum, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe in Kempten, ist ein profunder Kenner der Werke des Schriftstellers W. G. Sebald. „Ich bin kein Literaturwissenschaftler, sondern Dilettant“, sagt er, also in des Wortes eigentlicher Bedeutung ein Liebhaber der Kunst Sebalds.
Bereits bevor Ricardo Felberbaum vor 16 Jahren ins Allgäu kam, wurde er von einem befreundeten jüdischen Architekten aus Amsterdam auf den aus dem Allgäu stammenden Schriftsteller hingewiesen, doch der Name geriet wieder in Vergessenheit. Erst als er zufällig in einer englischsprachigen Buchhandlung Sebalds Roman AUSTERLITZ in der englischen Übersetzung fand, begann für ihn die Auseinandersetzung mit dem mannigfaltigen Werk des mit seiner Heimat immer wieder ringenden Autors und Literaturwissenschaftlers. Sebald wurde für ihn in den letzten drei Jahren „die größte Entdeckung, ein intellektuelles Abenteuer“. Und als der Literaturwissenschaftler und Autor Prof. Dr. Gerhard Köpf bei einer Matinee des T:K-Theater in Kempten auf Sebald zu sprechen kam, kam ihm die Idee, einen Literaturwettbewerb zu Ehren des von ihm verehrten Autors zu initiieren.
Im Gespräch mit Professor Felberbaum geht es denn auch um DIE AUSGEWANDERTEN, SCHWINDEL. GEFÜHLE, DIE RINGE DES SATURN, UNHEIMLICHE HEIMAT, LOGIS IN EINEM LANDHAUS und natürlich um AUSTERLITZ, jenen großen, weitschweifigen, zutiefst berührenden Roman, bei dem alle Fäden am Ende zusammenführen, jener großartigen Auseinandersetzung mit dem Holocaust einerseits, der Verdrängung und dem bewussten Unter-den-Teppich-Kehren andererseits, ein Roman, dessen sprachliche Gewalt an Thomas Mann und Thomas Bernhard erinnert, in dem Zeit nicht mehr linear sondern in Zeitwaben erscheint, in dem die Dialoge und Handlungen in Schichten aufgebaut werden („Sagte A, habe B gesagt, dass C erlebt habe“).
Darf ein nicht-jüdischer Autor über den Holocaust schreiben? Wenn er so schreibt wie Sebald, dann ja, wurde nach dem Erscheinen dieses Werkes betont.
Sebald hadert mit seiner Heimat
Winfried Georg Sebald war nach seinem Abitur in Oberstdorf und seinem Studium in Freiburg im Breisgau und Fribourg (Schweiz) bereits 1966 nach England ausgewandert. Die mangelhafte Auseinandersetzung mit dem gerade überwundenen Nazi-Regime und der Vernichtung jüdischen Lebens, aber auch den Verstrickungen der Bürger mit den Machthabern und deren Verbrechen waren ihm unerträglich, seine eigenen Vornamen lehnte er ab („Winfried“ war für ihn das Paradebeispiel eines Nazi-Vornamens). Freunde nannten ihn „Max“ und er bestand fortan auf die Schreibweise seiner Initialen. Die Idylle des Allgäus und der Widerspruch zur Realität wurden für ihn unerträglich.
Sebald lehrte als Literaturwissenschaftler in England an mehreren Universitäten und widmete sich ab den 1980er Jahren verstärkt seinem eigenen literarischen Schaffen. Immer wieder trieb es Sebald zurück nach Deutschland (er promovierte an der Universität Hamburg) und in seine Allgäuer Heimat.
„Ich bin in einer Region zur Welt gekommen, wo der Krieg nicht hingekommen ist.“
W. G. Sebald
Bis zu seinem Tod soll er seinem Allgäuer Dialekt treu geblieben sein. In seinen Erzählungen, Romanen und Essay, in seiner Auseinandersetzung mit österreichischen und Schweizer Schriftstellern wie Joseph Roth, Thomas Bernhard, Gottfried Keller, Robert Walser, fällt immer wieder Sebalds Affinität zu den Entwurzelten und Heimatlosen auf.
„Menschen, die wurzellos sind, erkennen sich gegenseitig“
Ricardo Felberbaum
Prof. Felberbaums Familiengeschichte hört sich an, als wäre sie der Stoff zu einem weiteren Roman Sebalds:
Die jüdischen Großeltern väterlicherseits waren in den 1920er Jahren aus Galizien (der Vater wurde in Zloczow geboren, damals Polen, heute Solochiv, Ukraine) nach Uruguay emigriert, die deutschstämmigen Großeltern mütterlicherseits nach Argentinien. 1941, mitten im Krieg, lernten sich die katholische Mutter und der jüdische Vater Felberbaums in Buenos Aires kennen und lieben, eine Verbindung die bis zum Tod der Mutter 1980 hielt. 1958 gingen die beiden Opernsänger nach Deutschland, 1961 kam Ricardo Felberbaum auf die Welt mit einem argentinischen Pass. 1969 ist die Familie gerade wieder auf dem Sprung nach Südamerika, als ein Engagement des Vaters an der Kölner Oper sie in Deutschland hält. 1979 muss Felberbaum seine argentinische Staatsbürgerschaft aufgeben, da er sonst in die Armee der argentinischen Militärdiktatur eingezogen worden wäre. Acht Jahre lang ist er staatenlos, bevor er die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt.
Ein Einwanderer: staatenlos, entwurzelt
Die Staatenlosigkeit mag zwar ideologisch erstrebenswert sein, im praktischen Leben ist sie mit äußersten Schwierigkeiten verbunden. „Wenn die Dinge hier einmal nicht mehr so gut laufen, werde ich daran erinnert werden, dass ich nicht dazugehöre“, sagt Prof. Felberbaum über sich. Eine Lehre, die ihm sein Vater gab. Väterlicherseits jüdischer Abstammung (im Massaker im Juli 1941 in Zloczow und Umgebung und den anschließenden Deportationen nach Treblinka kommt die gesamte dort verbliebene Verwandtschaft ums Leben), als südamerikanischer Einwanderer, in jungen Jahren lange Zeit staatenlos, ist ihm der Zustand des Entwurzelten, Heimatlosen sehr vertraut – und damit auch die literarischen Figuren von W. G. Sebald.
Darüber hinaus ist Prof. Felberbaum begeistert von der sprachlichen Genauigkeit und Sensibilität Sebalds, von seinen feinen Verästelungen, von dem geradezu enzyklopädischen Wissen, das dieser Schriftsteller in vielen seiner Werke vermittelt. Dem Arzt Felberbaum gefällt natürlich die plastische Darstellung von Schwindelanfällen, in denen Prof. Felberbaum genaue Beschreibungen von Herzattacken sieht. Er geht davon aus, dass Sebald dieses Gefühl sehr genau kannte und es daher sehr wahrscheinlich ist, dass der tödliche Autounfall im Dezember 2001 eine Folge eines Herzinfarktes war. Auf die Frage, ob er glaube, er hätte Sebald persönlich gemocht, antwortet Felberbaum: „Sein Antlitz auf den diversen Fotografien wirkt sehr freundlich; Ja, ich denke, ich hätte ihn gemocht. Auf jeden Fall hätte ich ihn gerne kennengelernt.“
Weltliteratur wieder ins Bewusstsein holen
Seine jahrelange Mitgliedschaft in der Marcel-Proust-Gesellschaft, die seinerzeit übrigens ebenfalls von einem Arzt gegründet wurde, und die Erfahrungen, die er dort sammeln konnte, halfen Felberbaum, eine Sebald-Gesellschaft und einen Sebald-Literaturwettbewerb ins Leben zu rufen. Und so ist er nun schon geraume Zeit unermüdlich dabei, Gespräche mit Experten wie Dr. Kay Wolfinger (Ludwig-Maximilians-Universität München), den Städten Kempten und Sonthofen, dem Markt Wertach und dem Landkreis Oberallgäu zu führen.
„Ziel der Gesellschaft ist es, das Werk Sebalds ins Bewusstsein zu holen als ein lesenswertes Stück Weltliteratur, das aus Deutschland, aus dem Allgäu kommt“, sagt Felberbaum.
„Wir sind stolz auf unsere Milch und unser Kalbskotelett, aber Sebald kennen nur wenige.“
Prof. Dr. Ricardo Felberbaum, Sebald Gesellschaft
Es soll ein offener Verein werden, jede*r Interessierte soll beitreten, gerade die Diversität der Mitglieder soll die Gesellschaft und deren Aktivitäten bereichern. So wird sich auch der Jahresmitgliedsbeitrag um überschaubaren 50 € herum bewegen, für Studenten und Schüler niedriger.
Die von Dr. Wolfinger schon seit einigen Jahren alljährlich stattfindenden Seminare sollen ebenso Bestandteil sein wie der Literaturwettbewerb, der auch künftig alle zwei Jahre zu einem vorgegebenen Thema ausgeschrieben werden wird. Unter den anonymisierten Beiträgen wird eine unabhängige Fachjury die*den Preisträger*in wählen.
Unterstützt wird die Gesellschaft finanziell von den Städten Kempten und Sonthofen, dem Markt Wertach und dem Landkreis Oberallgäu, sowie von Förderern, allen voran Prof. Felberbaum selbst, der sich verpflichtet hat, im ersten Jahr einen allfälligen Fehlbetrag auszugleichen.
„Andere Ärzte spielen zum Ausgleich Golf, ich gründe die Deutsche Sebald Gesellschaft“, beendet er mit einem verschmitzten Lächeln unser aufregendes, inspirierendes Gespräch.